Johannes Brahms


Johannes Brahms

* 7. Mai 1833 in Hamburg

† 3. April 1897 in Wien



Sinfonie Nr. 2


Als alten Mann haben wir Johannes Brahms vor Augen, als biederes Leitbild der Konservativen gegen die Neuerungen der Neudeutschen. Dabei ist Brahms gar nicht alt geworden, gerade mal 63 Jahre. Und war darüber hinaus gut für manche Neuerung.

Meist erschließen sich diese progressiven Ideen von Brahms leider nur dem analytischen Blick in die Partituren. Aber einmal immerhin, in seiner zweiten Sinfonie, kann man eine davon gut hören. Man muss sie nicht in den Noten lesen, man kann sie wirklich erleben. Wer im ersten Satz eine knappe Minute wartet, den springt sie förmlich an, wenn nämlich die lieblichen pastoralen Klänge der Holzbläser, Hörner und Streicher plötzlich von der Pauke gestört werden, die den Posaunen und der Tuba den Weg bereitet: ein Einbruch in die Form des Sonatensatzes, ein plötzlicher Stillstand der Musik nach gerade einmal 32 Takten.

Brahms' Freund und Kollegen Vincenz Lachner hat das sehr gestört: „Warum werfen Sie in die idyllische heitere Stimmung, mit der sich der erste Satz einführt, die grollende Pauke, die düstern lugubren Töne der Posaunen und Tuba?“, fragte er in einem Brief und wollte Posaunen und Tuba gar ganz aus der Sinfonie verbannen, dann könnten sie auch nicht „in ihrer gesteigerten Wiederholung bis zu einem grellen Ausbruch von Wut und Schmerz vorschreiten, der mein Ohr verletzt.“ Lachner war ein erklärter Anhänger der Konservativen, die von einer Sinfonie vor allem klassisches Ebenmaß verlangten. Den dissonanten Ausbruch, den Brahms den Posaunen ab Takt 224 zugedacht hatte, empfand er als „verwegen, den Wohllaut schwer beeinträchtigend“ – er fällt, auch noch für unsere heutigen Ohren, ebenso aus dem Rahmen wie der erste Auftritt der Posaunen.

Brahms' Antwort auf diese Kritik ist erhellend: Er habe es versucht, schreibt er seinem „teuren Freund“, aber ohne die Posaunen gehe es nicht: „Ihr erster Eintritt, der gehört mir, und ihn und also auch die Posaunen kann ich nicht entbehren. Sollte ich jene Stelle verteidigen, da müsste ich weitläufig sein. Ich müsste bekennen, dass ich nebenbei ein schwer melancholischer Mensch bin, dass schwarze Fittiche beständig über uns rauschen“.

Das ist es also, was wir da hören: Hinter dem Wohlklang der Sinfonie lauert stets noch etwas anderes. Die Idylle des Wörthersees, wo die Sinfonie 1877 entstand, und wo die Melodien fliegen, „dass man sich hüten muss, keine zu treten“ (so Brahms in einem Brief an Hanslick), hat einen dunklen Hintergrund, der hier immer wieder durchtönt – wenn man genau hinhört.

Klemens Hippel

Johannes Brahms

1833–1897

 

Symphonie Nr. 2

D-Dur  opus 73

[1877

1. Allegro non troppo

 

2. Adagio non troppo – L'istesso tempo, ma grazioso

 

3. Allegretto grazioso (Quasi Andantino) – Presto, ma non assai

 

4. Allegro con spirito

 

10./11. 6. 2023  ► Programm Nr. 41

 

 



Sinfonie Nr. 4


Johannes Brahms

1833–1897

 

Symphonie Nr. 4

e-Moll  opus 98

[1884 | UA 1885 Meiningen]

 

1  Allegro non troppo

2  Andante moderato

3  Allegro giocoso

4  Allegro energico e           passionato

 

5./6. 6. 2015  ► Programm Nr. 29

Max Kalbeck (1850–1921), Musikkritiker, enger Freund und Parteigänger Brahms’ in seiner Brahms-Biographie

 

In Leipzig begegneten sich Tschaikowsky und Brahms, ohne einander näherzutreten. Vielleicht hätten sie sich leichter verständigt, wenn nicht unglücklicherweise beide so ziemlich zu derselben Zeit (1878) ihr Violinkonzert komponiert gehabt hätten, obendrein jeder in D-dur. Das Tschaikowskysche ging in der Herausgabe dem Brahmsschen voran, so daß es den Anschein gewann, Brahms habe es auf Konkurrenz abgesehen. Und das Schlimmste war, daß [der Kritiker Eduard] Hanslick das 1882 von Brodsky in Wien gespielte Konzert Tschaikowskys »übelriechende Musik« genannt hatte. Für Brahms war die persönliche Bekanntschaft mit dem begabten Schüler Rubinsteins, der damals noch nicht als Komponist der Pathétique und der Pique-Dame bekannt war, sondern in Deutschland erst am Anfang seiner Berühmtheit stand, kein sonderlich wichtiges Ereignis. Was er von Tschaikowskys symphonischer Musik gesehen und gehört hatte, lief seinen künstlerischen Grundansichten meist diametral zuwider. Ein haltloses Talent, das ewig zwischen den Extremen überspitzter europäischer Bildung und asiatischer Barbarei hin- und herzuschwanken schien, konnte ihm keinen Respekt abgewinnen. Der Ausgleich zwischen Geburt und Erziehung, Wollen und Können, Persönlichkeit und Konvenienz vollzog sich bei Tschaikowsky nicht im Konzertsaal, sondern auf dem Theater, dem eigentlichen Boden seiner musikalischen Begabung: er war erst recht er selbst, wenn er seine Individualität verleugnen konnte, und der Zauber der Szene sorgte für die Einheit der Stimmung, die seinen orchestralen Schöpfungen so oft fehlt.

 

Bezeichnender für Tschaikowsky als für Brahms ist die Schilderung der Eindrücke, die der Russe von Brahms empfangen und in seinen »Erinnerungen an Leipzig, Berlin und Hamburg« niedergelegt hat. Ohne darauf vorbereitet zu sein, traf er mit Brahms und Grieg im Hause des Konzertmeisters und Quartettisten Brodsky zusammen. Alle drei waren dort zum Diner eingeladen, und der höflich ein wenig früher kommende Gast platzte in die Generalprobe des c-moll-Trios hinein, das den Tag darauf öffentlich gespielt werden sollte. Der »hübsche, graue Kopf« des am Klavier sitzenden Meisters erinnerte den unfreiwilligen Störenfried an einen »seelensguten, ältlichen russischen Geistlichen« […] Vom Äußern des Meisters auf das Innere seiner Kunst übergehend, bemerkt Tschaikowsky, der musikalische Gedanke werde von Brahms nie ganz ausgesprochen; kaum sei eine melodische Phrase angedeutet, so werde sie schon von allerhand harmonischen Modulationen überwuchert, als ob der Komponist es sich speziell zur Aufgabe gemacht hätte, unverständlich und tief zu sein; er irritiere geradezu das musikalische Gefühl, indem er dessen Bedürfnisse nicht befriedige, und scheue sich, in dem Tone mit uns zu reden, der zu Herzen geht. Wenn man ihn höre, frage man sich: Ist Brahms in der Tat tief, oder kokettiert er nur mit der Tiefe seiner musikalischen Erfindung, um die äußerste Armut der Phantasie zu markieren? und es dürfe schwer halten, diese Frage definitiv zu beantworten. An anderer Stelle, in dem Aufsatze über Mendelssohn, Schumann und Brahms, sucht Tschaikowsky seiner subjektiven Meinung das Gewicht einer beglaubigten Tatsache anzutäuschen. Diesmal bedient er sich keiner hypothetischen, konjektural bedingten Redeweise mehr, sondern schreibt falsch und grob apodiktisch: »Brahms hat die Hoffnungen, die Schumann und nach diesem das ganze musikalische Deutschland auf ihn setzte, nicht gerechtfertigt.« Und erläuternd setzt er hinzu: »Brahms ist einer jener Komponisten geblieben, an denen die deutsche Schule so reich ist. Er schreibt fließend, gewandt, rein« – (wo bleibt der irritierende, unverständliche Tiefsinn?) – »aber ohne eine Spur selbständiger Eigenart, indem er sich in endlose Variationen klassischer Themata verliert.«

| Hans Kalbeck: Johannes Brahms. 4 Bde. 1912–1921 (www.zeno.org) Band 4/1 Kap. 2

 

Wenige Tage danach lud er [Brahms] mich zu einer »ehrbaren Annäherung«, einer musikalischen Unterhaltung in Friedrich Ehrbars Klavierniederlage ein. Dort traf ich Hanslick, Billroth, Brüll, Hans Richter, C. F. Pohl und Gustav Dömpke. Während Brahms und Brüll spielten, wendeten ihnen Hanslick und Billroth die Notenblätter um. Dömpke und ich lasen mit Richter in der Partitur nach. Es war alles wie vor zwei Jahren bei der Probe zur Dritten Symphonie und doch wieder ganz anders. Nach dem wundervollen Allegro, einem der gehaltreichsten, aber auch gedrungensten und knappsten Brahmsschen Sätze, erwartete ich, daß einer der Anwesenden wenigstens in ein lautes Bravo ausbrechen würde. Meine Wenigkeit glaubte damit den älteren und berufeneren Freunden des Meisters nicht vorgreifen zu dürfen. Richter murmelte etwas in seinen blonden Bart hinein, was Weithörigen für einen Ausdruck der Zustimmung gelten konnte, Brüll räusperte sich und rutschte schüchtern und verlegen auf seinem Sessel hin und her, die andern schwiegen hartnäckig, und da auch Brahms nichts sagte, so trat eine ziemlich lähmende Stille ein. Endlich gab Brahms mit einem knurrigen: »Na, denn man weiter!« das Zeichen zur Fortsetzung, da platzte Hanslick nach einem schweren Seufzer, als ob er sich erleichtern müßte und doch fürchtete, zu spät zu kommen, noch schnell heraus: »Den ganzen Satz über hatte ich die Empfindung, als ob ich von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt würde.« Alles lachte, und die beiden spielten fort. Das fremdartig klingende, melodiegesättigte Andante gefiel mir ausnehmend gut, und ich ermannte mich, da wieder keiner mit der Sprache herausrückte, zu irgendeiner dröhnenden Banalität, die womöglich noch unangenehmer wirkte als das beängstigende Stillschweigen. Das verstruwwelte, grimmig-lustige Scherzo aber kam mir im Verhältnis zu den vorhergegangenen Sätzen allzu unbedeutend vor, und der gewaltige Passacaglio des Finales, die Krone aller Brahmsschen Variationensätze, schien mir kein rechter Abschluß für die Symphonie zu sein. […]

 

»Natürlich«, fing er an, »habe ich schon gestern gemerkt, daß Ihnen die Symphonie nicht gefällt, und das tut mir aufrichtig weh. Wenn Leuten wie Billroth, Hanslick oder Ihnen meine Musik nicht gefällt, wem soll sie dann gefallen?« – »Nein, so schlimm ist es, was mich betrifft nun ganz und gar nicht«, beteuerte ich; »was Hanslick und Billroth oder die andern denken, weiß ich nicht, denn ich habe mit keinem von ihnen gesprochen. Ich weiß nur, daß, wenn ich so glücklich wäre, der Komponist eines solchen Werkes zu sein, ich mich nicht damit begnügen würde, drei an sich sehr herrliche Sätze zusammengestellt zu haben, sondern daß ich noch viel genauer zusehen würde, ob sie sich auch zusammen vertragen. Ginge es nach meinem Geschmack, ich würfe das Scherzo mit seinen abrupten Haupt- und ziemlich banalen Nebengedanken in den Papierkorb, gäbe die großartige Chaconne als selbständiges Variationenwerk heraus und erfände zwei neue Sätze, die besser zu den andern paßten.« Nachdem ich dies und mehr in heftiger und aufgeregter Weise unter starkem Herzklopfen herausgewürgt und gestoßen hatte, […] erschrak ich über meine Verwegenheit und sah einer beschämenden Zurechtweisung mit aller möglichen Fassung entgegen. Aber es erfolgte nichts dergleichen, nicht einmal eine Grobheit oder ein schlechter Witz. Ruhig und beinahe liebevoll ging er auf meine Vorwürfe und Bedenken ein, suchte sie mit sachlichen Gründen zu entkräften und zu zerstreuen. Den dritten Satz wolle er nicht verteidigen; denn über den Wert von Melodien wäre nicht zu streiten, auch klinge gerade dieses Scherzo nicht auf dem Klavier, es sei rein fürs Orchester gedacht und berechnet. Das Finale wollte er mit dem Hinweis auf den Schlußsatz der »Eroika« rechtfertigen, ohne den Gehalt und Wert beider Sätze in Vergleich zu ziehen, rein in formeller Rücksicht. Beethoven habe in seinen Sonaten und Symphonien sich nicht geniert, mit Variationen abzuschliessen. Das Finale der »Eroika« sei zwar keine Chaconne, aber doch ein ziemlich strenger Variationensatz, der das festliegende Baßthema gehörig respektiere. Ich war so naseweis, seiner Replik in einer Duplik entgegenzuhalten, daß ich von einer Steigerung, wie sie nicht nur die »Eroika«, sondern auch seine eigenen früheren Symphonien zum Schlusse bringen, hier nichts bemerkt hätte, woran wohl das eigensinnige Festhalten an der alten, so wunderbar neu belebten Form schuld sei; daß Beethoven den höchsten Gipfel erst erreiche, nachdem er den obstinaten Baß für immer entlassen habe, um der freigewordenen, im Andante verklärten Melodie seines Kontrapunktes zu dem ihr gebührenden Triumphe zu verhelfen, usw.

So redeten wir über zwei Stunden hin und her, und er sagte endlich: »Die Symphonie zurückzuziehen, habe ich keinen Grund. Was ich mir eingebrockt habe, werde ich auch ausessen. Die Schreier im Parterre sind mir Wurst, das übrige Publikum, unter uns gesagt, dito. Es kann ja sein, daß Sie recht haben. Aber wir wollen doch erst mal hören, was das Orchester dazu meint. Wir wissen ja beide nicht, setzte er mit leisem Lächeln hinzu, wie das Werk klingt. Am Klavier und ohne Animo – das will doch nichts heißen! […]«

| Hans Kalbeck: Johannes Brahms. 4 Bde. 1912–1921 (www.zeno.org) Band 3/2 Kap. 8

 

Zwar hatte Hans von Bülow die neue Sinfonie mit dem Meininger Orchester einstudiert, überließ dann aber, wenn auch sicherlich enttäuscht, das Dirigat der Uraufführung respektvoll dem extra angereisten Komponisten. | nach wikipedia



Schicksalslied


Johannes Brahms

1833–1897

 Schicksalslied op. 54

für Chor und Orchester

Text von Friedrich Hölderlin

[1868, UA Karlsruhe 1871]

 

Langsam und sehnsuchtsvoll – Allegro – Adagio

 

 

29./30. 4. 2012  ► Programm Nr. 22


Friedrich Hölderlin

1770–1843

 

Hyperions Schicksalslied

1796/98

 

Ihr wandelt droben im Licht

 Auf weichem Boden, selige Genien!

  Glänzende Götterlüfte

   Rühren Euch leicht,

    Wie die Finger der Künstlerin

     Heilige Saiten.

 

Schicksallos, wie der schlafende

 Säugling, atmen die Himmlischen;

  Keusch bewahrt

   In bescheidener Knospe

    Blühet ewig

     Ihnen der Geist,

      Und die seligen Augen

       Blicken in stiller

        Ewiger Klarheit.

 

Doch uns ist gegeben,

 Auf keiner Stätte zu ruhn;

  Es schwinden, es fallen

   Die leidenden Menschen

    Blindlings von einer

     Stunde zur andern,

      Wie Wasser von Klippe

       Zu Klippe geworfen,

        Jahrlang ins Ungewisse hinab.


Das Irdische und das Göttliche, Schicksal, Leben, Tod – viele schwere, bedeutsame Worte liegen in Hyperions Schicksalslied. Friedrich Hölderlin zeichnet ein hoffnungsloses Bild der leidenden, fallenden Menschen, die jahrelang blindlings von einer Stunde zur andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen werden. Es ist vielleicht der düsterste Text, den Brahms vertont hat, der einzige jedenfalls von Hölderlin. 

 

Das Gedicht entstammt dem Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1792–1798), in verschlungener Erzählstruktur als Briefroman von Goethes Leiden des jungen Werther inspiriert. Der Jüngling Hyperion begibt sich 1770 in den griechischen Befreiungskampf. Dort ist er abgestoßen von der Gewaltbereitschaft seiner Freunde, findet aber Erfüllung in seiner Liebe zu Diotima. Diese stirbt allerdings, als Hyperion abermals in einer Schlacht kämpft. Daraufhin zieht es ihn nach Deutschland zurück; da er sich dort aber unwohl fühlt, kehrt er wieder um nach Griechenland, um von dort Briefe an seinen Freund Bellarmin zu schreiben – einen Roman als Rückschau auf die Ereignisse. Hölderlin sagte 1794 darüber, es ginge um den »Übergang aus der Jugend in das Wesen des Mannes vom Affecte zur Vernunft, aus dem Reich der Fantasie ins Reich der Warheit und Freiheit.« 

 

Die Romanbriefe sind in Prosa verfasst, doch gibt es einen lyrischen Einschub, ein dreistrophiges Gedicht in freien Versen: Hyperions Schicksalslied. In einer dreistufigen Gegenüberstellung von Götterwesen und Menschen bringt es tiefsten Pessimismus zum Ausdruck, die Unerreichbarkeit himmlischer Seligkeit, den Tod als das einzige Ende eines blind wütenden Schicksals. Brahms hat das Gedicht vermutlich als ein autonomes gesehen, da er wohl mit dem gedanklichen Inhaltes des Romans nicht genügend vertraut war. 1868 berichtet Albert Dietrich über Brahms, er »habe im Bücherschrank Hölderlins Gedichte gefunden und sei von dem Schicksalslied auf das Tiefste ergriffen. Als wir später nach langem Umherwandern und nach Besichtigung aller interessanten Dinge ausruhend am Meer saßen, entdeckten wir bald Brahms in weiter Entfernung, einsam am Strand sitzend und schreibend.« Zur Uraufführung kam es allerdings erst drei Jahre später, da zwischendurch noch die Alt-Rhapsodie op. 53 geschrieben werden musste, um den Liebesschmerz zu verarbeiten, den Brahms empfand, weil 1869 Schumanns Tochter Julie jemanden anderes heiratete. 

 

Man findet in Brahms’ Komposition statt der Dreistufigkeit bei Hölderlin nur zwei Teile, die in antithetischem Kontrast zueinander stehen und von einem Orchestervor- und nachspiel eingerahmt sind. Den ersten Teil in Es-Dur bilden die ersten beiden Strophen, den zweiten Teil in c-Moll die dritte Strophe, die allerdings wiederholt wird, sodass die beiden Teile rein zeitlich in keiner Weise einander nachstehen. Außergewöhnlich ist, abgesehen davon, dass ein orchestrales Nachspiel bis dahin beispiellos ist, dass Vor- und Nachspiel keine tonale Klammer bilden: das Schicksalslied beginnt in Es-Dur und endet in C-Dur. Da das Nachspiel solch eine Neuerung darstellte, gab es diesbezüglich einen besonderen Hinweis »Nachspiel des Orchesters« von Brahms im Programm der Uraufführung. Aber auch für ihn selbst komponierte sich dieses Nachspiel nicht ohne weiteres. Es gab Überlegungen, die ersten Zeilen der ersten Strophe zu wiederholen, Überlegungen zu Vokalisen (»am liebsten möchte ich den Chor nur ›ah‹ singen lassen, quasi Brummstimmen.«), bis hin zum bewussten Verzicht auf die Vokalstimmen. Gegenüber Karl Reinthaler kommentierte Brahms das im Oktober 1871 folgendermaßen: »Das Schicksalslied wird gedruckt, und der Chor schweigt im letzten Adagio. … Ich war soweit herunter, dass ich dem Chor was hingeschrieben hatte; es geht ja nicht. … Ich sage ja eben etwas, was der Dichter nicht sagt.« Natürlich bietet das einen breiten Raum für jegliche Art der Spekulation. Allerdings sollte man Brahms’ Interesse für die Philosophie Arthur Schopenhauers in einen Interpretationsversuch mit einbeziehen: Schon in seiner Jugendzeit hatte Brahms lange mit Freunden über dessen Gedankengut diskutiert, und in einem Gespräch mit Dvořák und Suk über religiöse Fragen soll er geäußert haben, er habe zu viel Schopenhauer gelesen und schaue sich die Sache anders an, was ein bedauerndes Kopfschütteln der beiden anderen zur Folge hatte. Daraus lässt sich ansatzweise dieses Nachspiel als eine Art schopenhauersche »Linderungsstrategie« interpretieren. Die Musik wirkt als »Quietiv«, als Beruhigungsmittel, weil der Hörer in der ästhetischen Versenkung von seinem »Zwang zum Wollen« befreit wird. Er gelangt in einen »schmerzlosen Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens.« Und auch das von Hölderlin in der ersten Strophe des Schicksalsliedes gezeichnete hoffnungslose Bild der schwindenden, fallenden, leidenden Menschen findet sich schon bei Schopenhauer: »So ist das Daseyn … ein stetes Hinstürzen … Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß … dass … er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt … – dem Tode.« 

 

Doch besingt das Schicksalslied ein irdisches Problem, dessen innewohnende Sehnsucht lediglich illusorisch sein kann. Die Musik ist es nun, die zu einer immerhin temporären Linderung verhelfen mag. Die im abschließenden Adagio in schlichtem C-Dur erklingende Melodie bietet dem Hörer ein – wenn auch zeitlich auf die Dauer des Erklingens begrenztes – Verharren in glückseligem »interesselosen Wohlgefallen«. Dies spiegelt wohl auch Brahms’ Idee seiner eigenen künstlerischen Aufgabe wieder. Max Kalbeck formuliert die kompositorische Aussage auf der Basis des schopenhauerschen Gedankengutes treffend: »Aber nicht ohne Trost wie der an dem Zwiespalt von Ideal und Leben gescheiterte Dichter des Schicksalsliedes durfte Brahms seine Zuhörer entlassen. … – das Orchester nimmt den langsamen und sehnsuchtsvollen Gesang wieder auf und taucht ihn in sonniges C-Dur, um Allen, die da Leid tragen, Trost und Erhebung zu bringen, um uns zu versichern, dass es noch ein anderes Leben gibt, … das Leben im Reiche der Idee unter den Urbildern menschlicher Vollkommenheit, zu dem wir mit dem Künstler durch seine Kunst jederzeit eingehen können.« 

| Annegret Eberl

 

Christoph Flamm, Hölderlin, Brahms, Klinger: individuelles Leid und ästhetischer Trost im Schicksalslied, in: Brahms Studien Band 16, Tutzing 2011, S. 47–65

Viktor Ravizza, Brahms Spätzeitmusik, Die sinfonischen Chorwerke, Schicksalslied op. 54: Krise des Inhalts – Krise der Form, Schliengen 2008, S. 143–194



Ungarische Tänze


Johannes Brahms

1833–1897

 Ungarischer Tanz Nr. 6

D-Dur (original Des-Dur)

Vivace

 

1. 12. 2001 ► »Klassik im Salon [1]«

Die Ungarischen Tänze Nr. 1–21 o. op. (WoO 1) komponierte Johannes Brahms ursprünglich für Klavier zu vier Händen.