Gustav Mahler


Radierung von Emil Orlik, 1902
Radierung von Emil Orlik, 1902

Gustav Mahler

* 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen

† 18. Mai 1911 in Wien, Österreich-Ungarn



Sinfonie Nr. 2 – Auferstehung


Gustav Mahler

1860–1911

Sinfonie Nr. 2 in c-Moll

[1894]

»Auferstehung«


I. Allegro maestoso.

Mit durchaus ernstem und feierlichem Ausdruck

II. Andante comodo.

Sehr gemächlich. Nie eilen

III. In ruhig fließender Bewegung – attaca:

 

IV. „Urlicht“. Sehr feierlich, aber schlicht. Nicht schleppen

„O Röschen rot!“ (Mezzosopran-Solo) – attacca:

V. Im Tempo des Scherzos. Wild herausfahrend – Wieder zurückhaltend – Langsam. Misterioso
    „Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du“ (Sopran-Solo, Chor)
    „Wieder aufzublüh’n, wirst du gesä’t“ (Sopran-Solo, Chor)
    „O glaube, mein Herz!“ (Mezzospran-Solo, Sopran-Solo)
    „Was entstanden ist, das muss vergehen!“ (Chor, Mezzosopran-Solo)
    „O Schmerz! Du Alldurchdringer!“ (Mezzosopran-Solo, Sopran-Solo)
    „Mit Flügeln, die ich mir errungen“ (Chor)


Titanenhaftes Ringen

Die 2. Sinfonie von Gustav Mahler  

So unstrittig es ist, dass Gustav Mahlers Sinfonien ausführliche Programme zugrunde liegen, so verdruckst ist der Umgang der Musikkritik und -geschichtsschreibung mit dieser Tatsache. Programmmusik gilt als ästhetisch peripher, als Musik, die ein „Hilfsmittel“ braucht, um zu „funktionieren“. So kann man dann oft lesen, Mahlers Programme seien „in ihrer Bedeutung vielfach überschätzt“ (Bärenreiter Komponisten-Lexikon) oder „letztlich irrelevant“ (Der Konzertführer).

Mahler selbst ist nicht ganz unschuldig an dieser Auffassung. Schließlich hat er sich im Jahr 1900 öffentlich von den Programmen für seine Sinfonien distanziert – ganz bildungsbürgerlich auf Latein formulierte er das: „Pereat den Programmen“, also „Fort mit den Programmen“. Die Gründe für diese öffentliche Abkehr hat er selbst nicht mitgeteilt. Man nimmt an, dass ihr eine Mischung aus Verärgerung über Missverständnisse und Spott, Abgrenzung zur Musik von Richard Strauss und Angst vor der Wiener Musikkritik zugrunde lagen.  

Mahler war 1897 an die Wiener Oper gegangen, wo der damalige Papst der Wiener Musikkritik zuhause war: Eduard Hanslick, bekannt als Verächter der Programmmusik. Wer die Angst Mahlers vor zersetzender Kritik verstehen will, muss nur die Berliner Rezension seiner Aufführung der zweiten Symphonie lesen: „Niemals hat mir Musik einen abstoßenderen Eindruck gemacht“, heißt es da. Das Werk zeige „die Unfähigkeit, selbst aus einem guten Gedanken, einem brauchbaren Motive [etwas zu machen,] was auch nur für einige Momente den Hörer fesselt. Das ist über alles Maß hinaus und ist nicht Musik, sondern Lärm, Skandal, Unfug, Umsturz.“

Heute klingt es für uns absurd, wenn ein längst vergessener No-Name-Musikkritiker die Musik eines der bedeutendsten Symphoniker überhaupt nicht versteht, aber damals war das für Mahler, der sich seinen Platz in der Musikwelt erst noch erkämpfen musste, existenzgefährdend.

Welche Gründe auch immer Mahlers öffentliche Verlautbarung hatte, wirklich ernst gemeint kann er es nicht haben mit seiner Abkehr von den Programmen. Denn kurze Zeit nach seinem Verdikt schrieb er in einem Brief an den Musikschriftsteller und -kritiker Max Kalbeck: „Es gibt, von Beethoven angefangen, keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat.“ Es lohnt sich also in jedem Fall, sich mit Mahlers Programmen zu seinen Sinfonien zu befassen.  

Seine zweite Sinfonie ist in diesem Zusammenhang ein besonders interessantes Werk. Er begann sie 1888 als Sinfonische Dichtung mit dem Titel „Totenfeier“. Erst 1893 machte sich Mahler daran, eine Sinfonie daraus zu machen, indem er einen zweiten, dritten und vierten Satz dazukomponierte, 1894 folgte der 5. Satz. Die Totenfeier für Hans Bülow, bei der er den Choral „Auferstehn“ von Friedrich Gottlieb Klopstock hörte, hatte Mahler zu diesem Satz inspiriert. Er legte den Text dieses Gedichts seinem 5. Satz zugrunde und lässt ihn von einem Sopran- und Alt- (oder Mezzosopran-)Solo sowie von einem gemischten Chor singen.  

Zur Programmatik der 2. Sinfonie, die 1895 in Berlin uraufgeführt wurde, hat sich Mahler dreimal geäußert – das letzte Mal übrigens 1901, also nach seiner offiziellen Abkehr von Programmen.

„Der erste Satz“, so teilt Mahler 1896 mit, „enthält das titanenhafte Ringen eines in der Welt noch befangenen kolossalen Menschen mit dem Leben und dem Geschick, dem er immer wieder unterliegt: es endet mit seinem Tod“. Später beschreibt er das aus der Perspektive des Hörers: „Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Male an unserem geistigen Auge vorüber.“

„Der zweite und dritte Satz sind Episoden aus dem Leben des gefallenen Helden“, bemerkt Mahler 1896. 1900/01 teilt er genauer mit: „Ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses teuren Toten“ ist das Programm des zweiten Satzes. Im dritten werden ihm „die Welt und das Leben zum wirren Spuk; der Ekel vor allem Sein und Werden packt ihn mit eiserner Faust und jagt ihn bis zum Aufschrei der Verzweiflung“.

Im 4. Satz folgt eine interessante Abweichung der Programme: „Das ,Urlicht‘ ist das Fragen und Ringen der Seele um Gott und ihre eigene ewige Existenz“, schreibt Mahler 1896, während es 1901 heißt: „Die rührende Stimme des naiven Glaubens tönt an unser Ohr: ‚Ich bin von Gott und will wieder zu Gott!‘“

Klar ist schließlich die Botschaft des 5. Satzes: Das Jüngste Gericht kündigt sich an – aber es kommt nicht. „Kein himmlisches Gericht; keine Begnadeten und keine Verdammten; kein Guter, kein Böser, kein Richter!“. Stattdessen „durchleuchtet uns ein allmächtiges Liebesgefühl mit seligem Wissen und Sein!“

In diesen programmatischen Äußerungen steckt jede Menge Inspiration für das eigene Hören der Musik. Und natürlich auch für das Spielen und Singen. Denn Mahlers Programme sind auch wie Regieanweisungen für das Orchester und den Chor, die beim Einstudieren und Aufführen seiner Musik eine Vorstellung davon haben müssen, was ihm bei seiner 2. Sinfonie vorschwebte. Beim „Urlicht“ etwa muss man sich entscheiden: Geht es hier um den „naiven Glauben“ oder um das Ringen der Seele? Oder vielleicht, wie so oft bei Mahler, um mehrere Aspekte gleichzeitig?

Klemens Hippel