Piotr Tschaikowsky


Tschaikowsky, 1888

Piotr Iljitsch Tschaikowsky

Пётр Ильи́ч Чайко́вский

* 25. April (jul.) / 7. Mai (greg.) 1840 in Kamsko-Wotkinski Sawod, Russland

† 25. Oktober (jul.) / 6. November (greg.) 1893 in Sankt Petersburg

Leonard Berlin (1841–1931) (zugeschrieben)

Atelier E. Bieber Hamburg

Photoportrait Tschaikowsky. 1888

© Öffentliche Bibliothek Bergen



Sinfonie Nr. 5


 Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

Symphonie Nr. 5

e-Moll op. 64

[1888

UA Sankt Petersburg

17. November 1888]

 

1

Andante – Allegro con anima – Molto più tranquillo

2

 Andante cantabile con alcuna licenza – Allegro non troppo

3

 Valse Allegro moderato

4

 Finale Andante maestoso – Allegro vivace – Moderato assai e molto maestoso – Presto

 

02./03. 11. 2019 ► Programm Nr. 37 Jubiläumskonzert

Johann Theodor Friedrich Avé-Lallemant – wikimedia commons
Johann Theodor Friedrich Avé-Lallemant – wikimedia commons

Tschaikowsky widmete seine fünfte Sinfonie dem Vorsitzenden des Comités für die Philharmonischen Konzerte in Hamburg, Theodor Avé-Lallemant (1806–1890). Der mit Johannes Brahms und Robert Schumann befreundete Avé-Lallemant verstand sich selbst als »Tonkünstler« und »Musikant«. Zunächst als Musiklehrer und Musikschriftsteller tätig, konnte er sich dank Eheschließung mit der wohlhabenden Wilhelmine Jauch ab 1838 in dem erwähnten Komitee, dem er 52 Jahre lang angehören sollte, ganz der Förderung des Hamburger Musiklebens widmen. 1847 gehörte er zu den Mitbegründern des Hamburger Tonkünstlervereins.

[Ein ausführlicher Programmheftbeitrag ist krankheitshalber nicht erschienen.]

 



Sinfonie Nr. 4 »Fatum«


 Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

Symphonie Nr. 4  »Fatum«

f-Moll op. 36 [1877]

 

1  

Andante sostenuto – Moderato con anima –

      Moderato assai, quasi Andante – Allegro vivo

2  

Andantino

in modo di canzona

3  

Scherzo

      Pizzicato ostinato –Allegro

4  

Finale

      Allegro con fuoco

 

► Programm 34 


Die Legende vom Damokles-Schwert 

wird von Cicero in seinen tusculanae disputationes 5,61–62 überliefert:

Damokles, ein Günstling des Tyrannen Dionysios I. (oder des II.) von Syrakus (1. H. 4. Jh. v. Chr.), war neidisch auf Macht und Reichtum des Herrschers. Dionysios erteilte deshalb seinem Höfling die Lektion, dass man auch im Luxus kein sorgloses Leben führen könne: Er lud Damokles zu einem Festmahl an der königlichen Tafel, bei dem dieser jedoch unter einem Schwert sitzen sollte, das nur an einem Rosshaar aufgehängt war. Damokles bat daraufhin, die Tafel verlassen zu dürfen.

 

Das Fatum

von lat. fatum = Götterspruch, Schicksal, Geschick, Verhängnis, Verderben. Das Fatum wird meist personifiziert mit den drei Moiren (griech.) oder Parzen (röm.).

Unter dem Titel »Fatum« hat Tschaikowsky bereits 1868 eine Sinfonische Dichtung in g-Moll geschrieben (op. posth. 77).

Briefzitate aus: C. Drinker Bowen und Barbara von Meck, Geliebte Freundin. Tschaikowskys Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck.  [Beloved Friend] Aus dem Englischen unter Benutzung der russischen Original-Briefe von Wolfgang E. Groeger. Leipzig, 1938

Kamenka, den 23. August 1877

Teure Nadeshda Philaretowna!

Eben traf Ihr Brief ein, und ich beeile mich, Ihnen einige wenige Zeilen zu senden, um Sie noch in Brailow zu erreichen. […]

Ich habe mich jetzt soweit erholt, dass ich sogar zur Instrumentierung Ihrer* Sinfonie geschritten bin. Einer meiner Brüder, auf dessen Urteil ich großen Wert lege, war sehr zufrieden mit dem, was ich ihm aus der Sinfonie vorgespielt habe. Die Instrumentierung des ersten Satzes wird mir recht viel Mühe machen. Er ist sehr verwickelt und lang; zugleich aber auch, wie mir scheint, der am besten gelungene Teil. Dafür sind die übrigen drei Sätze sehr einfach, und ihre Instrumentierung wird mir viel Vergnügen machen. Das Scherzo bringt eine neue Instrumentalwirkung, von der ich mir viel verspreche. Zuerst spielen nur die Streichinstrumente, und zwar die ganze Zeit über pizzicato; im Trio treten die Holzblasinstrumente ein und spielen auch solo; sie werden abgelöst durch eine Gruppe von Blechinstrumenten, die ebenfalls allein spielen; am Schluss des Scherzos tauschen die drei Gruppen Wechselrufe in kurzen Sätzen aus. Ich glaube, dass diese Klangwirkung reizvoll sein dürfte. Ich hoffe, dass Ihre Sinfonie Ihnen gefallen wird. Das ist die Hauptsache.

Auf Wiedersehn, lieber teurer Freund, Ihr P. T. (S. 130)

 


* Tschaikowsky widmete die 4. Sinfonie »seinem Freunde«, Frau von Meck, wie verabredet ohne ihren Namen zu nennen.


 

   „Unsere Sinfonie“, schrieb Tschaikowsky an Frau Nadeshda, „ist ein bißchen weiter gekommen.“ Und zugleich erzählte er ihr von der „neuen Instrumentalwirkung“, von der er sich „viel verspricht“. Dass seine Hoffnung nicht zu hoch griff, wird jeder Dirigent bestätigen, der Tschaikowsky gern spielt; die Wirkung ist straff und glanzvoll, dass ehrgeizige Dirigenten versucht sind, ein zu schnelles Tempo zu nehmen und die Melodie zu opfern, um mit ihrer Orchesterführung zu prunken.

(S. 131)

 

Venedig, den 21. Dezember 1877

Ich habe nicht nur tüchtig an der Instrumentierung unserer Sinfonie gearbeitet, sondern bin ganz in dieser Arbeit versunken. Noch niemals hat mich eins meiner Orchesterwerke soviel Mühe gekostet, aber ich habe mich auch noch niemals einer arbeit mit soviel Liebe hingegeben. Ich habe eine angenehme Überraschung erlebt bei Inangriffnahme der Arbeit. Zuerst arbeitete ich eher daran, weil die Sinfonie doch einmal zu Ende gebracht werden musste, wie schwer mir das auch fallen mochte. Aber nach und nach ergriff mich Begeisterung, und jetzt fällt es mir schwer, mich von der Arbeit loszureißen. Teure, liebe Nadeshda Philaretowna, vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, dass diese Sinfonie etwas nicht ganz Gewöhnliches ist, dass sie das Beste ist, was ich jemals geschrieben habe. Wie froh bin ich, dass es unsere Sinfonie ist und dass Sie beim Hören wissen werden, dass ich bei jedem Takt an Sie gedacht habe. Wenn Sie nicht wären, ob ich sie wohl je zu Ende gebracht hätte? […] (S. 186)

 

[Brief 763]

Florenz, den 1. März 1878

[…] Sie fragen [Nadeshda Philaretowna], ob diese Sinfonie ein bestimmtes Programm hat? Wenn man mir über ein sinfonisches Werk diese Frage vorlegt, pflege ich mit einem Nein zu antworten. Es ist wirklich nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Wie soll man in Worten jene unbestimmten Empfindungen wiedergeben, die einen bei der Niederschrift eines Instrumentalwerkes durchfluten, das an sich keinen bestimmten Vorwurf hat? Es ist ein rein lyrischer Vorgang. Eine musikalische Seelenbeichte, das Bekenntnis einer Seele, die, zum Bersten gefüllt vom Niederschlag des Lebens, infolge ihrer besonderen Wesenheit sich in Töne ergießt – ganz so, wie der lyrische Dichter sich in Versen verströmt. Der Unterschied ist nur der, dass die Musik unvergleichlich gewaltigere Ausdrucksmittel und eine viel feinere Sprache besitzt, um tausend verschiedene Gemütsbewegungen auszudrücken. […]

   Es wäre ein vergebliches Bemühen, Ihnen in Worten die unendliche Seligkeit jenes Gefühls schildern zu wollen, das mich ergreift, wenn der Haupteinfall empfangen wurde und beginnt, sich in bestimmten Formen zu entfalten. Man vergisst alles um sich, ist gleichsam benommen, alles zittert und bebt im Innern, kaum hat man Zeit, die Entwürfe festzulegen, so schnell folgt einander Einfall auf Einfall. Inmitten dieses zauberhaften Vorgangs trifft uns zuweilen ein Stoß von außen und weckt uns aus dem nachtwandlerischen Zustande. Die Türglocke klingelt, ein Dienstbote tritt ein, die Uhr schlägt und erinnert an einen notwendigen Gang … Diese Unterbrechungen sind eine Qual, eine unsagbare Qual. Zuweilen verflüchtigt sich die Erleuchtung auf eine Weile; man sucht nach ihr, sucht oft vergeblich. Sehr häufig muss ein durchaus kühler, sehr bewusster technischer Arbeitsgang zur Hilfe herangezogen werden. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass man selbst bei den größten Meistern Stellen findet, wo keine organische Verschweißung vorliegt, sondern Nähte bemerkbar werden, Einzelteile, die künstlich aneinander geknüpft sind. Das kann nicht anders sein. […]

 

   Doch ich habe mich von Ihrer Frage ablenken lassen. Unsere Sinfonie hat ein Programm, das heißt, es besteht hier die Möglichkeit, in Worten darzulegen, was sie auszudrücken sucht. Ihnen, aber auch nur Ihnen, kann und will ich die Bedeutung sowohl des Ganzen als auch der einzelnen Sätze erklären. Natürlich kann das nur in ganz allgemeinen Umrissen geschehen.

 

   Die Einleitung ist das Samenkorn der ganzen Sinfonie, der Haupteinfall, von dem alles abhängt:

   

   Dies ist das Fatum, das Schicksal, jene verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück sich nicht verwirklichen lässt, die eifersüchtig darüber wacht, dass Glückseligkeit und Friede nicht voll und wolkenlos sei, die wie Damokles’ Schwert über unserem Haupte hängt und unsere Seele immer und immerfort vergiftet. Diese Macht ist unbesiegbar und unentrinnbar. Uns bleibt nichts übrig als Ergebung und fruchtlose Sehnsucht:

   

   Freudlosigkeit und Hoffnungslosigkeit werden immer stärker, immer quälender. Wäre es nicht besser, sich von der Wirklichkeit abzuwenden und in Träumen zu versinken:

   

   O welche Freude! Nun ist wenigstens ein süßer und zärtlicher Traum erwacht! Ein beseligendes, lichtes Menschenbild schwebt dahin und lockt ins Unbestimmte:

   

Wie herrlich! Und wie fein jetzt das unentrinnbare erste Thema des Allegro klingt. Doch allmählich haben Träume die ganze Seele erfasst. Alles Finstere, Freudlose ist vergessen. Da ist es, da ist es, das Glück!

   Nein, es war nur ein Traum, und Fatum, das Schicksal, weckt uns aus ihm:

   

So ist denn unser ganzes Leben ein unablässiger Wechsel harter Wirklichkeit und flüchtiger Traumgebilde, flüchtiger Träume von Glück … Es gibt keinen Hafen … Schwimme dahin durch dieses Meer, bis es dich umschlingt und hinabzieht in seine Tiefe. — Dies ungefähr ist das Programm des ersten Satzes.

  Der zweite Satz der Sinfonie drückt eine andere Stufe der Schwermut aus. Es ist jenes wehmütige Gefühl, das uns des Abends ergreift, wenn wir einsam dasitzen, ermüdet von unserem Tagewerk, ein Buch auf den Knien, das unserer Hand entsank. Erinnerungen brechen in Mengen auf uns ein. Wie süß sind diese Erinnerungen an die Jugendzeit, und wie traurig, dass schon so Vieles war und vergangen ist. Wie leid ist es uns um die Vergangenheit, und doch möchten wir das Leben nicht von vorne beginnen, es hat uns zermürbt. Wie schön, ein wenig auszuruhen und rückwärtszuschauen. So Vieles fällt einem wieder ein. Es gab heitere Stunden, als das junge Blut heiß war und uns das Leben befriedigte. Es gab auch schwere Stunden, unersetzliche Verluste. All das ist nun schon so weit weg … Wie schmerzlich und doch wie süß ist es, sich in die Vergangenheit zu versenken! …

   Der dritte Satz drückt keine bestimmten Empfindungen aus. Es sind allerlei Schnörkel und Rankenwerk, unfassliche Bilder, die einem durch den Sinn schweben, wenn man ein Gläschen Wein getrunken hat und leicht berauscht ist. Es ist einem weder heiter noch traurig ums Herz. Man denkt an nichts, gibt die Vorstellungskraft frei, die seltsamerweise merkwürdige Zeichnungen hinmalt … Unter ihnen taucht plötzlich das vergessene Bild betrunkener Bäuerlein und ein Gassenhauer auf … Dann zieht irgendwo in der Ferne ein militärischer Aufzug vorüber. Es sind abgerissene Bildfetzen jener Art, wie sie uns beim Einschlafen durch den Sinn huschen. Sie haben mit der Wirklichkeit nicht gemein, sind seltsam, wüst, abgerissen.

   Der vierte Satz. Wenn du in dir selbst keinen Anlass zur Freude findest, so suche sie in anderen Menschen. Geh ins Volk, sieh, wie es versteht, heiter zu sein und sich ungehemmt der Freude hinzugeben … Ein Volksfest findet statt. Doch kaum hat du dich selbst vergessen in der Betrachtung fremder Freuden, als das Fatum, das unentrinnbare Schicksal, aufs Neue erscheint und an sich erinnert. Aber die anderen kümmern sich nicht um dich. Sie haben sich nicht einmal nach dir umgewandt, dich nicht angeblickt und nicht bemerkt, dass du einsam und traurig bist. Oh, wie fröhlich sie sind! Wie sind sie glücklich, weil all ihre Gefühle unbefangen und einfach sind! Erkenne dich selbst und sage nicht, alles auf Erden sei traurig. Es gibt schlichte aber tiefe Freuden. Freue dich an fremder Freude. Man kann das Leben doch ertragen. —

   Das ist alles, meine liebe Freundin, was ich Ihnen zur Erläuterung der Sinfonie sagen kann. Natürlich ist es unklar und unvollständig. Aber das Wesen der Instrumentalmusik besteht ja gerade darin, dass sie sich nicht zerlegen und erklären lässt. ,Wo die Worte aufhören, da beginnt die Musik.‘

  PS. Bevor ich diesen Brief in den Umschlag steckte, habe ich ihn eben durchgelesen und bin entsetzt über die Verschwommenheit und Ungenauigkeit des Programms, das ich Ihnen sende. Zum ersten Mal im Leben habe ich Musikgedanken, Musikbilder in Worte und Sätze gekleidet. Es ist mir nicht gelungen, das befriedigend zu tun. Vorigen Winter, als die Sinfonie geschrieben wurde, litt ich sehr an Schwermut; die Sinfonie ist ein Widerhall dessen, was ich damals empfand, aber eben nur ein Widerhall. Wie könnte er in klare und bestimmte Wortfolgen gebracht werden? Ich weiß es nicht und kann es nicht. Vieles habe ich auch schon vergessen. Geblieben ist nur eine allgemeine Erinnerung an die Leidenschaftlichkeit und das Unheimliche des Erlebten. […] (S. 221ff)



Sinfonie Nr. 6 »Pathétique«


Piotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 Symphonie Nr. 6 Pathétique

h-Moll opus 74

[UA 1893 St. Petersburg]

 

1   

Adagio – Allegro non troppo –

 Andante – Moderato mosso –

 Andante – Moderato assai –

 Adagio mosso – Allegro vivo – Andante come prima –

Andante mosso

2   

Allegro con grazia

3   

Allegro molto vivace

4   

Finale

Adagio lamentoso – Andante – Vivace – Andante –

Andante non tanto – Moderato assai –

Andante – Andante giusto

 

 

 

Wir haben die Pathétique dreimal gespielt:  

 

10. und 11. 6. 2016 

Programm 31 

 

22. 6. 2016 

► Gedenkkonzert für die Opfer des Attentats in Orlando  


Gabrielle Gaia Hourglass and Scythe. Sunny Slope Cemetery in Saunemin, Illinois, 2014

(Photo veröffentlicht auf flickr)

»Musik ist keine Illusion, sie ist Offenbarung. 

Und darin besteht ihre sieghafte Kraft, dass sie eine Schönheit offenbart, die uns in keiner anderen Sphäre zugänglich ist und uns mit dem Leben versöhnt. [...] Jedenfalls ist die Freude an der Musik keine physiologische Erscheinung, obwohl natürlich die Nerven als körperliche Organe an der Aufnahme musikalischer Eindrücke beteiligt sind.«

Tschaikowsky am 5. Dezember 1877 an Nadeshda von Meck

 

 

Im Juni 1893 wurde Pjotr Iljitsch Tschaikowsky in Cambridge der Ehrendoktor verliehen. Dem Dirigenten Walter Damrosch erzählte er bei der Gelegenheit, »dass er soeben eine neue Symphonie vollendet habe, die sich ihrer Form nach von allen, die er je geschrieben habe, unterscheide.« Damrosch fragte ihn, worin denn dieser Unterschied bestehe, und er habe geantwortet: »Der letzte Satz ist ein Adagio, und das gesamte Werk hat ein Programm«. In nur zwölf Tagen hatte Tschaikowsky den Rohentwurf seiner letzten Sinfonie skizziert, die Orchestrierung erfolgte dann im August 1893 innerhalb von etwa vier Wochen. Seinen Verleger Jürgenson informierte er, dass er seine Pathétique seinem Lieblingsneffen Bobyk Dawydow widmen wolle, und er schrieb: »Etwas Eigenartiges ist mit dieser Symphonie geschehen! Nicht, dass sie missfällt, sondern dass die Leute nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen. Was mich anlangt, so bin ich stolzer auf sie als auf alle meine anderen Kompositionen.«

 

Juri Dawydow, Tschaikowskys jüngster – damals 17-jähriger – Neffe, berichtet von der Begeisterung der Musiker bei der Generalprobe über das neue Werk, und dass anwesende Freunde wie der Dirigent Naprawnik und die Komponisten Glasunow, Ljadow und Laroche tief ergriffen gewesen seien. Der Lyriker Großfürst Konstantin Konstantinowisch Romanow habe sich Tschaikowsky zugewandt und ausgerufen: »Was haben Sie getan?! Das ist doch ein Requiem, ein richtiges Requiem!« Das Publikum sei nach der von Tschaikowsky selbst dirigierten Uraufführung am 16. Oktober 1893 derart ergriffen gewesen, dass es zunächst erstarrte, dann aber zu Begeisterungsstürmen hingerissen worden sei.

 

Am 26. Oktober, lautet eine Zeitungsmeldung: »In der Stadt kursieren die widersprüchlichsten Gerüchte sowohl hinsichtlich der Ursache von P. I. Tschaikowskys Krankheit als auch der seines Todes.« Am Tag zuvor, nur neun Tage nach der Uraufführung seiner Pathétique, war Tschaikowsky nach plötzlicher Krankheit an Urämie, also Harnvergiftung, infolge Nierenversagens infolge Cholera gestorben. Über den Verlauf der Krankheit des in Russland beliebten und damals bereits berühmten Komponisten hatten die Tageszeitungen zuvor ausführlich berichtet. Einer der behandelnden Ärzte, Dr. Lew Bertenson, bestätigte in einer offiziellen Stellungnahme die Cholera-Diagnose. Fünf Tage später publizierte Tschaikowskys Bruder Modest einen ausführlichen Zeitungsartikel über den gesamten Krankheitsverlauf. Aber Gerüchte, Tschaikowsky sei nicht an der Cholera gestorben, sondern habe sich mit Gift das Leben genommen, hielten sich hartnäckig. So schrieb später Nikolaj Rimsky-Korsakow in der Chronik meines musikalischen Lebens: »Einige Tage später [nach der Uraufführung] kursierte die Nachricht, dass er schwer erkrankt sei. [...] Sein unerwartetes Ende traf alle zutiefst, und dann folgten Totengottesdienste und das Begräbnis. [...] Das plötzliche Ableben des Komponisten gab den unterschiedlichsten Gerüchten Auftrieb.«

 

Und diese Gerüchte haben sich bis heute gehalten. Die Heidelberger Musikwissenschaftsprofessorin Dorothea Redepenning fasst das Geschehen in ihrer jüngst erschienenen Tschaikowsky-Biografie so zusammen: »Bald rankten sich die unterschiedlichsten Legenden um seinen Tod. Er habe willentlich verseuchtes Wasser getrunken, er habe sich das Leben genommen, der Cholera-Tod sei vorgetäuscht worden, um das zu verschleiern, und könne auch deshalb nicht zutreffen, weil nicht die nötigen Hygienemaßnahmen ergriffen worden seien. Alexandra Orlowa trat 1981 mit der These an die Öffentlichkeit, ein Femegericht habe den Komponisten wegen Homosexualität zum Selbstmord verurteilt, er habe seinem Leben mit Gift ein Ende gesetzt, und die Legende vom Cholera-Tod habe Modest Tschaikowsky erfunden, um den Ruf der Familie zu schützen. Inzwischen wurde minutiös nachgewiesen, dass all dies nicht zutrifft. Tschaikowsky infizierte sich zufällig, wurde dann zunächst falsch behandelt, und so nahm das Unheil seinen Lauf.«

 

Den »minutiösen Nachweis« erbrachte der Musikwissenschaftler Alexander Poznansky mit seiner Veröffentlichung Cajkovskijs Homosexualität und sein Tod – Legenden und Wirklichkeit, die 1998 im Band 3 der Cajkovskij-Studien bei Schott erschien. Zunächst erörtert er, wieso es überhaupt zu einer derartigen Legendenbildung kommen konnte, ja vielleicht kommen musste: Zu überraschend-unerwartet war der erst 53-jährige in Russland berühmte und für seine Kompositionen von allen – bis hin zu Zaar Alexander III. – geliebte Pjotr Iljitsch Tschaikowsky plötzlich verstorben. Das rief geradezu nach einer »Erklärung«, nach einem tieferen, verborgenen »Sinn«, nach einer »Ursache«. Und seine letzte Sinfonie – hatte Tschaikowsky nicht ein »Programm« erwähnt, das er aber nicht verraten werde? Klang sie nicht wie die Vorahnung des nahen eigenen Todes? So lässt sie sich jedenfalls hören, und so wird sie sicherlich seit ihrer zweiten Aufführung kurz nach dem Tod des Komponisten, zu der sie erstmalig als Pathétique angekündigt wurde, bis heute gehört. Nur dass sie zwar vom unausweichlichen Schicksal handelt (wie übrigens auch schon Tschaikowskys 4. und 5. Sinfonie) und schließlich, mit ihrem im vierfachen Pianissimo ersterbenden Adagio lamentoso, auch vom Tod – aber nicht unbedingt von Tschaikowskys eigenem, gar unmittelbar bevorstehend geahnten … | mk

 

- Brown, David: Peter I. Tschaikowsky. Im Spiegel seiner Zeit, Zürich (Atlantis Musikbuch-Verlag) 1996, S. 217; 245

- Floros, Constantin: Peter I. Tschaikowsky, Reinbek (rororo) 2006, S. 64f

- Redepenning, Dorothea: Peter Tschaikowsky, München (Beck) 2016, S. 120

- Alexander Poznansky: Cajkovskijs Homosexualität und sein Tod. Legenden und Wirklichkeit (Hrsg. Thomas Kohlhase: Cajkovskij-Studien Bd. 3), Mainz (Schott) 1998



Suite aus dem Ballett »Schwanensee«


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 »Schwanensee-Suite« op. 20

[1875-76, rev. 1894]

 

daraus:

Nr. 1 Szene

und

Nr. 3 Tanz der kleinen Schwäne

 

24./25. 1. 2016

► Konzertprogramm Nr. 30

Peter Cazalet Swan Lake Szenenbild. 2015 – Ballet West, Salt Lake City



Klavierkonzert Nr. 1


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1

b-Moll opus 23

[1874 | UA 1875 Boston]

 

1  Allegro non troppo e molto      maestoso

2  Andantino semplice

3  Allegro con fuoco  

 

 

Gespielt am 5. und 6. Juni 2015

von Haruka Kuroiwa, Klavier,

im  Programm Nr. 29


Alfred Lorens, tätig 2. H. 19. Jh.

Tschaikowsky in St. Peterburg. 1874  

Brief an Nadeschda von Meck, Tschaikowskys Vertraute und 

Gönnerin, am 21. Januar / 2. Februar 1878 aus San Remo

 

Im Dezember 1874 schrieb ich ein Klavierkonzert. Da ich kein [Konzert-] Pianist bin, mußte ich mich an einen speziellen Virtuosen wenden, damit er mir angäbe, was in technischer Hinsicht schwer ausführbar, undankbar, nicht effektvoll usw. ist. Ich brauchte einen strengen, aber zugleich mir freundschaftlich gesinnten Kritiker, nur für diese äußerliche Seite meines Werkes.

Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, nicht die ganze Vorgeschichte erklären, um mich nicht in eine Unmenge von kleinlichen Streitigkeiten zu verlieren, aber ich muß die Tatsache konstatieren, daß irgendeine innere Stimme in mir gegen die Wahl [Nikolaj G.] Rubinsteins als Berater bei der technischen Seite meines Werkes protestierte. Ich wußte, daß er sich nicht enthalten würde, bei dieser günstigen Gelegenheit seinen dünkelhaften Querkopf hervorzukehren. Nichtsdestoweniger ist er nicht nur der erste Moskauer Pianist, sondern auch tatsächlich ein ausgezeichneter Pianist, und da ich im voraus wußte, daß er tief verletzt sein würde, wenn er erführe, daß ich ihn übergangen hätte, schlug ich ihm vor, das Konzert anzuhören und Anmerkungen zum Klavierpart zu machen. Das war am Weihnachtsabend 1874. […]

Ich spielte den ersten Satz. Kein einziges Wort, keine Bemerkung! […] Ich rüstete mich mit Geduld und spielte bis zu Ende. Wieder Schweigen. Ich stand auf und fragte: »Nun, was ist?« Darauf floß aus dem Munde N. G. [Rubinstein]s ein Redestrom, leise beginnend, dann immer mehr und mehr in den Ton des donnerschleudernden Jupiters übergehend. Es erwies sich, daß mein Konzert ganz und gar nichts tauge, daß es unspielbar sei, daß die Passagen abgedroschen, plump und so ungeschickt seien, daß man sie nicht einmal verbessern könne, daß es als Werk schlecht und banal sei, daß ich dieses von da und jenes von dort gestohlen hätte, daß es nur zwei bis drei Seiten gebe, die man lassen könne und das Übrige entweder weggeworfen oder völlig umgearbeitet werden müsse. »Dies zum Beispiel, – was ist denn das?« (Dabei spielte er die bezeichnete Stelle in karikierender Weise.) »Und dies? Ist denn das möglich!« – usw. usw. Das Wichtigste, das heißt den Ton, in dem all dies gesagt wurde, kann ich Ihnen nicht wiedergeben. Mit einem Wort, ein fremder Mensch, der in dieses Zimmer geraten wäre, hätte denken können, daß ich ein Wahnsinniger sei, ein unbegabter, von nichts etwas verstehender Schreiberling, der zu einem berühmten Musiker gekommen ist, um ihm sein unsinniges Zeug aufzudrängen. […]

Ich verließ schweigend das Zimmer und ging nach oben. Vor Aufregung und Wut konnte ich nichts sagen. Bald erschien [N. G.] Rubinstein, und als er meine verärgerte Stimmung bemerkte, rief er mich in eines der abgelegenen Zimmer. Dort wiederholte er mir wieder, daß mein Konzert unmöglich sei, und machte mich auf viele Stellen aufmerksam, die einer radikalen Umarbeitung bedürften; er sagte, wenn ich das Konzert zu einem bestimmten Termin seinen Forderungen entsprechend umarbeitete, werde er mir die Ehre erweisen, meine Komposition in einem seiner Konzerte zu spielen. »Ich werde nicht eine Note ändern , – antwortete ich ihm, – und werde es in derselben Form drucken [lassen], in der es sich jetzt befindet!« So machte ich es auch.

 

Tschaikowsky widmete das Konzert daraufhin Hans von Bülow, den er persönlich kannte und als Pianist verehrte. Hans von Bülow wurde so zum Solisten der Uraufführung des Werkes in Boston während seiner mehrmonatigen USA-Tournee im Jahr 1875. In Europa hat er das Konzert 1878 in Wiesbaden und 1885 in Moskau gespielt.

 

German Laroš vom 5./17. November 1875 

in der Zeitung Golos (»Die Stimme«)

über eine Aufführung des Klavierkonzertes in St. Petersburg

 

[…] Schon bald nach den ersten Akkorden des Klavierkonzertes von Herrn Tschaikowsky, dessen Solopart Herr Kross übernommen hatte, erfaßte auch die Hörer das Gefühl, nun endlich von Liszt befreit zu sein. Sie müssen – wie ich glaube – dieselbe Freude empfunden haben wie einst Dante und Vergil, als sie nach langem Herumirren in der dunklen Hölle endlich den Ausweg fanden und über ihnen wieder die Sterne zu sehen waren. […]

Die Introduktion von Tschaikowskys Klavierkonzert ist übrigens in einer derart festlich strahlenden Pracht gehalten, als würde sie sagen: »Freue dich, du Publikum! Nicht alles auf der Welt ist eine Göttliche Komödie, es gibt auch noch gute Musik, grandiose Gedanken ohne Aufgeblasenheit und eine schlichte Harmonik ohne Schwulst.«

In seinem musikalischen Gehalt ist dieses an sich anspruchslose Klavierkonzert des Russen Tschaikowsky viel reicher, interessanter, mannigfaltiger und sympathischer als jene sattsam bekannte sinfonische Dichtung des deutsch-ungarischen Komponisten. Andererseits kann Tschaikowskys neues Konzert unter seinen übrigen Werken nur einen ausgesprochen zweitrangigen Platz beanspruchen: Keiner der drei Folgesätze ist in seinem Niveau mit der prächtigen Introduktion vergleichbar, und keines der Motive (abgesehen vom ersten Thema der bereits erwähnten Introduktion) erreicht jene melodische Schönheit, die wir meinen, vom Komponisten des Romeo und des Opritschnik erwarten zu dürfen. In den Durchführungsteilen zeigt sich mitunter die Hast der Arbeit, die ihn oft zu Routine und Gemeinplätzen Zuflucht nehmen ließ. Besonders im ersten Allegro machen die unaufhörlichen Sequenzen aus Dominantsept-und Dreiklangsumkehrungen den Eindruck gewisser Flicken, die als schnelle Lösung leere Stellen überdecken sollen. Und trotzdem, ungeachtet aller gewichtiger Mängel, wirkte dieses Stück nach dem von Liszt wie eine Oase in der Wüste. Bei detaillierterer Betrachtung lassen sich auch über die Introduktion hinaus noch viele weitere gelungene Lösungen aufzeigen: So ist das Thema des Finales durch seine prononcierte Monotonie überaus pikant. Auch einige über die ganze Komposition verstreute Harmoniefolgen sind einfach schön, besonders auch die Pedaltöne [Orgelpunkte] im Orchester, bei deren Verwendung Herr Tschaikowsky großen Einfallsreichtum und ein hochsensibles Ohr erkennen läßt. Die Instrumentierung ist der von Romeo und Julia und der c-Moll-Sinfonie [op. 17] durchaus würdig. Doch diese prächtige Instrumentierung mit ihrer untadeligen Aufteilung der Akkorde auf die Instrumente hat natürlich auch ihre Kehrseite: Das Soloklavier bleibt sogar bei geschicktester Setzart zu kraftlos, um es mit diesem Orchester aufnehmen zu können. Es tritt in den Hintergrund und wird zum Begleitinstrument. Die Schuld daran trägt ausschließlich der Komponist, und auch der begabteste und wohlwollendste Solist kann dieses Werk nicht retten. […] 

 

Drei Jahre später, 1878, hat dann auch Nikolai Rubinstein in Moskau und St. Petersburg den Solopart des von ihm zunächst vehement kritisierten und abgelehnten Konzertes (s. oben) selbst gespielt. 

Tschaikowsky vor diesen Aufführungen an Nadeschda von Meck: 

 

[Mein Verleger] Jurgenson schreibt mir, daß Rubinstein mein Konzert spielen wird. Kennen Sie dieses Konzert? Wenn nicht, so würde ich sehr, sehr wünschen, daß Sie es hören. Das ist eines meiner Lieblingskinder. Auf welche Weise kommt Rubinstein jetzt darauf, dieses Konzert zu spielen, das er früher für unausführbar hielt? Ich weiß es nicht, aber ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er wird es wahrscheinlich ausgezeichnet spielen.

 

| Thomas Kohlhase: Cajkovskijs 1. Konzert für Klavier und Orchester op. 23. Seine Entstehungs- und frühe Aufführungsgeschichte, seine Quellen, Fassungen und Ausgaben. Tschaikowsky-Gesellschaft e.V., auf: www.tschaikowsky-gesellschaft.de (Mai 2015)



Orchestersuite Nr. 1


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 

Orchester-Suite Nr. 1

d-Moll  op. 43 [1878–79]

1.     

Introduktion und Fuge

         Andante sostenuto – Moderato e con anima

2.     

Divertimento  Allegro moderato

3.     

Intermezzo  Andantino semplice

4.     

Marche miniature  Moderato con moto

5.     

Scherzo  Allegro con moto

6.     

Gavotte  Allegro

 


 

 30. März 2014

► Programm Nr. 26


 

Als Suite (frz. Folge, Abfolge) gilt einerseits – wie beispielsweise Tschaikowskys Nussknacker-Suite – die Aneinanderreihung von Auszügen aus einem größeren Werk. Andererseits stellt sie eine unabhängige Form dar, wie auch die Orchester-Suiten von Johann Sebastian Bach mit ihren Abfolgen von Tänzen der Zeit wie Allemande, Courante, Sarabande sowie weiteren und zum Abschluss typischerweise einer Gigue. Tschaikowskys vier Orchester-Suiten folgen einem Trend aus Deutschland, der mit der Wiederentdeckung von Bachs Orchester-Suiten einsetzte. Tschaikowsky schätzte daran vor allem die Freiheit in der Form, die ihm erlaubte, seiner Neigung nach kurzen Genre-Stücken nachzugehen. Denn im Sommer 1878 war Tschaikowsky – erschöpft von der Komposition seiner vierten Sinfonie im Vorjahr – entschlossen, eine Auszeit von der Arbeit an der sinfonischen Musik zu nehmen. 

 

So entstanden leichte, melodische und fröhliche Stücke, doch auch solche mit schwermütiger Tiefe wie die Introduktion mit der anschließenden Fuge. Insgesamt lag dem Komponisten dann aber doch daran, mit der Orchestersuite – obwohl sie eine große Bandbreite an Stilen und Stimmungen umfasst – ein befriedigendes Gesamterlebnis hervorzurufen, was ihm einige Mühe bereitete. Nicht zuletzt, weil das Stück deutlich an Länge zunahm, verzögerte sich seine Fertigstellung um ein ganzes Jahr.

In ihrer endgültigen Form setzt sich die Suite aus sechs Sätzen zusammen:

 

Introduzione e fuga

Andante sostenuto – Moderato e con anima

Eine längere, unheilvolle Einleitung führt zu der Fuge hin. Diese beginnt noch nach dem barocken Vorbild, entfernt sich dann jedoch immer weiter davon und läuft sehr laut geradewegs ins 19. Jahrhundert. Das Ende des Satzes ist aber wieder ruhig.

 

Divertimento 

Allegro moderato

Dieser Satz hätte am ehesten mit Walzer überschrieben werden können. Die Klarinette hat die Aufgabe, in den Charakter des Stücks einzuführen. Außerdem gibt es eine Passage im Zusammenspiel der drei Flöten, die im »Tanz der Rohrflöten« (Danse des mirlitons) in der Ballettmusik »Der Nussknacker« wieder vorkommt. 

 

Intermezzo 

Andante semplice

Dieser Satz ist in seiner Stimmung zurückhaltender. Im Anfangsthema klingt das Thema der Fuge aus dem ersten Satz an. Es wechselt mit einer breiten, getragenen Melodie.

 

Marche miniature 

Moderato con moto

Der Marsch ist das bekannteste Stück aus der Orchester-Suite. Er ist nur mit hohen Stimmen besetzt: den hohen Holzbläsern, den Geigen und der Triangel. Die süße Leichtigkeit dieses Miniaturmarsches hätte durchaus auch in die Musik zum »Nussknacker« gepasst. 

 

Scherzo 

Allegro con moto

Dieser Satz war der erste, der geschrieben wurde, und der Grund dafür, warum die Suite überhaupt entstanden ist. Der Einfall dazu kam Tschaikowsky am 15. August 1878. Er schrieb: »Heute Morgen hatte ich einen solchen Drang, ein orchestrales Scherzo zu schreiben, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich verbrachte zwei Stunden mit der Arbeit daran.«

 

Gavotte 

Allegro

Tschaikowsky lehnt sich mit diesem Satz an den Stil der barocken Suite an. Aber eigentlich hat er wenig mit Johann Sebastian Bachs Stil zu tun. Eher kann er als Vorläufer des 3. Satzes in Sergeij Prokofjews 1. Sinfonie gesehen werden. 

 

Die Premiere fand am 20. Dezember 1879 in Moskau statt. Sie wurde – Tschaikowsky hielt sich gerade in Italien auf – von Nikolai Rubinstein dirigiert. Tschaikowskys Verleger Jurgenson schrieb über die Uraufführung: 

»Der erste Satz verstrich ohne große Zeichen der Zustimmung. Der zweite gefiel offensichtlich. Das Andante fand großen Gefallen, der Marsch jedoch zog großen Applaus nach sich, der nicht endete, bis das Stück wiederholt wurde. Das Scherzo wurde sehr gut aufgenommen, die Gavotte jedoch traf auf ein nunmehr müdes Publikum, das darauf drängte, nach Haus zu gehen.« 

 

Die Sankt Petersburger Premiere folgte am 6. April 1880. Die Suite wurde enthusiastisch aufgenommen, und wieder war der Marsch der erfolgreichste Satz. Der Marsch wird seither aufgrund seiner Popularität oft auch separat gespielt. | DS

 



Souvenir d’un lieu cher


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 

»Souvenir d’un lieu cher«

Drei Stücke

für Violine und Klavier, op. 42

[1878]

für Violine und Orchester arrangiert von

Alexander Glasunow (1865–1936)

 

1  Méditation

2  Scherzo: Presto giocoso

3  Mélodie: Moderato con moto

 


Peter Wünnenberg, Violine

am 4. 7. 2010 im  Programm 18

 


Landhaus von Meck (mit Tschaikowsky-Museum) in Brailow, südwestlich von Vinnitsa, Ukraine

Den ersten Satz (»Méditation«) des dreisätzigen Werkes »Souvenir d’un lieu cher« (»Erinnerung an einen liebgewonnenen Ort«) komponierte Peter Tschaikowsky im März 1878 während eines Aufenthaltes im schweizerischen Clarens. Tschaikowskys Gönnerin Nadeschda von Meck hatte ihm einen längeren Aufenthalt in ihrem dortigen Landsitz am Genfer See ermöglicht, damit der Komponist sich von dem Nervenzusammenbruch erholen konnte, den er 1877 nach seiner unglückseligen kurzen Ehe erlitten hatte.

In Clarens komponierte er sein Violinkonzert in Gesellschaft eines ehemaligen Kompositionsschülers, des Geigers Josif Kotek, dem Tschaikowsky schwärmerisch verbunden war, wie seine private Korrespondenz aus dieser Zeit zeigt, auch wenn Tschaikowskys Gefühle vermutlich nicht in gleichem Maße erwidert wurden. Die »Méditation« war ursprünglich als zweiter Satz des Violinkonzertes gedacht, wurde auf Anregung Koteks aber später durch einen anderen Satz ersetzt. 

Im Mai desselben Jahres verbrachte Tschaikowsky einige Wochen auf einem weiteren, idyllisch gelegenen Landsitz der Nadeschda von Meck im ukrainischen Brailov. Hier entstanden der zweite und dritte Satz von »Souvenir d’un lieu cher«. Bevor Tschaikowsky im Juni 1878 Brailov verließ, vertraute er das Manuskript des Tryptichons dem Diener mit der Bitte an, das Werk als Zeichen seiner Dankbarkeit für die Gastfreundschaft Frau von Mecks zu überreichen. 

 

Dabei notierte er in einem Brief an seine Mäzenin:

»Ich habe Marcel meine Stücke (dem Anwesen Brailov gewidmet) für Sie übergeben… Meiner Meinung nach ist das erste davon das Beste, obwohl es mir am schwersten fiel… Der zweite Satz ist ein sehr lebhaftes Scherzo und der dritte… chant sans paroles [ein Lied ohne Worte]. Als ich Marcel diese Stücke gab, fühlte ich eine unbeschreibliche Melancholie, die bis zum Schreiben dieser Zeilen fortdauerte; bis ich den Flieder sah, der noch in voller Blüte steht, das ungemähte Gras und die Rosen, die gerade beginnen zu blühen!«P. W.

– www.tchaikovsky-research.org

 

Nadeschda Filaretowna von Meck,

geborene Frolowskaja, 1831–1894, 

war die Witwe des reichen Eisenbahnunternehmers Karl von Meck. Ihren Platz in der Musikgeschichte verdankt sie besonders der Tatsache, dass sie über 14 Jahre hinweg Tschaikowskys Mäzenin und Brieffreundin war. Sie unterstützte aber auch andere Künstler, wie Claude Debussy und Nikolai Rubinstein.

– http://de.academic.ru

– http://www.vintur.com.ua/vinnitsa_brailov_en.htm



»Der Nussknacker« Ballettmusik


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893 

 Der Nussknacker

Ballett in 2 Akten

Libretto von Marius Petipa

nach Alexandre Dumas’ Version der Erzählung

Nussknacker und Mausekönig

 von E. T. A. Hoffmann


 

daraus

»Blumenwalzer«

aus Nussknacker-Suite, op. 71a [1892]

 

4. 7. 2010 Programm Nr. 18


 

daraus

»Tanz der Zuckerfee«

 

8. 1. 2012  Konzert Nr. 21


Klärchen bekommt am Weihnachtsabend von ihrem Patenonkel einen Nussknacker geschenkt. 

Sie träumt davon, wie der Nussknacker mit seinen Spielzeugsoldaten gegen das Heer des Mäusekönigs ankämpfen muss. Sie verhilft ihrem Nussknacker zum Sieg, worauf er sich in einen Prinzen verwandelt. Das glückliche Paar reist in das Reich der Süßigkeiten, wo die dort herrschende Zuckerfee zu Ehren der beiden Besucher ein rauschendes Fest gibt. 

 

Die epische Erzählform des Balletts erscheint in der Partitur der Nussknacker-Suite als eine Folge von kurzen, in Melodie, Rhythmus und Klangfarbe klar umrissenen Tanzstücken. Das vollständige Ballett besteht aus 23 »Nummern«. Sieben von ihnen hat Tschaikowsky in die Suite übernommen. […] Die Möglichkeiten des Orchesterklangs, den die sechs Charakter-Tänze demonstrieren, erscheinen in dem abschließenden »Blumenwalzer« noch einmal zusammengefasst. Dieser brillante Walzer bildet mit der Ouvertüre den Rahmen der Suite. […]

 

Das Bühnenwerk »Der Nussknacker« wurde am 17. Dezember 1892 im Petersburger Marien-Theater aufgeführt. Die Choreographie entwarf der berühmte Ballettmeister Marius Petipa. […] Die Premiere fand keine besondere Beachtung. Schon wenig später zeichnete sich jedoch bei einer Wiederaufnahme der dauerhafte Erfolg des Balletts ab. […]

 

(Bereits die Uraufführung des Balletts »Der Schwanensee« 1877 im Moskauer Bolschoi-Theater war ein eklatanter Misserfolg gewesen, und auf das 1889 in St. Petersburg geschriebene Ballett »Dornröschen« hatte das Publikum nur mit verhaltener Verblüffung reagiert.)

 

Die Handlung des Balletts folgt E. Th. A. Hoffmanns Erzählung »Nussknacker und Mausekönig«. Im festlich geschmückten Weihnachtszimmer empfangen der Präsident und seine Frau die Gäste, die den Heiligen Abend mit ihnen verbringen wollen. Die Kinder sind die Hauptpersonen des Abends. Alle erhalten Geschenke. Onkel Drosselmeyer schenkt seinem Liebling Klara einen Nussknacker. Endlich verabschieden sich die Gäste. Alle gehen zu Bett. Nur Klara kann nicht schlafen. Während sie allein in dem dunklen Zimmer zurückbleibt, bemerkt sie, wie sich alles um sie herum verzaubert. Eine wilde Mäusehorde stürmt herein, die von dem Mäusekönig angeführt wird. Die Mäuse fallen über eine Kompanie Soldaten her, an deren Spitze der in einen lebendigen Buben verwandelte Nussknacker steht. Das Heer des Nussknackers gerät in arge Bedrängnis. Nur dem Eingreifen Klaras ist es zu verdanken, dass es doch noch siegt. Als Belohnung für die Errettung lädt der Nussknacker Klara ins Reich der Süßigkeiten ein. [… Dort] verwandelt sich der Nussknacker in einen wunderschönen Prinzen. Er und die Zuckerfee organisieren für Klara ein rauschendes Fest. [Die erwähnte Reihe der] Charaktertänze veranschaulichen Klara die Köstlichkeiten dieser Welt. Schließlich geht das festliche Treiben mit dem »Blumenwalzer«, einem Pas de deux des Prinzen mit der Zuckerfee und einem rauschenden Finale zu Ende. | M. Z.

 

– nach Peter Dobson PHILIPS 6500 766 Tschaikowsky Orchesterwerke

– »I Grandi Musicisti« Tschaikowsky in 5 Folgen, Bd. IV 



Walzer aus der Oper »Eugen Onegin«


Piotr Iljitsch Tschaikowsky

1840–1893

 Walzer

aus der Oper »Eugen Onegin« op. 24

[1878]

 

 

20. und 21. 2. 2010  

► Programm Nr. 17


www.rodoni.ch/OPERNHAUS/onegin
www.rodoni.ch/OPERNHAUS/onegin

Kaum also hielten unsre Damen

Ihr Tässchen Tee geziert im Schoß,

Als laut vom Saal her Töne kamen:

Fagott und Flöte legten los.

Musik! Im Nu sind Tee und Tassen,

Likör und Rum im Stich gelassen,

Herr Petuschkow, der schöne Mann,

Schassiert mit Olga flott voran,

Tatjana folgt an Lenskis Seite,

Bujanow schleppt Frau Pustjakow,

Triquet erwischt die Charlikow,

Die alte Jungfer auf der Freite,

Und alles wirbelt wie der Wind

Zum Saal hinein: der Ball beginnt.

 

Vom Rausch der Rhythmen fortgezogen,

Blind rastlos, wie der Jugend Sinn,

Umschlingen sich des Walzers Wogen,

Kreist wirbelnd Paar um Paar dahin.

Jetzt soll Eugens Revanche kommen:

Rasch hat er Olgas Arm genommen

Und schwingt sie stürmisch kreuz und quer

Vor aller Welt im Saal umher,

Placiert sie lächelnd, bleibt daneben

Galant und heiter plaudernd stehn,

Um wie ein Pfeil im Handumdrehn

Aufs neu’ mit ihr davonzuschweben.

Rings großes Staunen; Lenski glüht,

Kaum glaubt er, was sein Auge sieht.

 

Nun folgt Masurka. Wenn vor Zeiten

Solch Tanz begann, ja dazumal

Durchschwoll ein Sturm von Seligkeiten,

Ein Jubelbraus den weiten Saal,

Dass Fenster klirrten, Wände dröhnten!

Und heut? Heut trippeln wir Verwöhnten

Geziert auf Glanzparkett dahin.

Nur auf dem Land, bei frischem Sinn,

Da steht Masurka noch in Blüte,

Sind Kraft und Schönheit noch bewahrt:

Das wogt und stampft, keck weht der Bart –

Noch ganz wie sonst ... Und Gott verhüte,

Dass dies dem Fluch der heut’gen Welt,

Dem Modezwang zum Opfer fällt!

 

 

Mit diesen Worten beschreibt Alexander Sergejewitsch Puschkin in seinem 1823–1830 geschriebenen berühmten Versroman »Evgenij Onegin« (dt. Eugen Onegin) jene Ballszene, für die Tschaikowsky in seiner gleichnamigen Oper nach einem Libretto seines Bruders (Uraufführung 1879) den heute erklingenden Walzer komponiert hat.

 

Der Walzer befindet sich am dramatischen Scheidepunkt der Oper und deutet musikalisch bereits das drohende Unheil an:

Die Geschichte beginnt auf dem Landsitz der Familie Larin. Lenski, der in Olga, die ältere der beiden Töchter der Larins, verliebt ist, kommt zu Besuch mit Onegin, seinem Nachbarn. In diesen wiederum verliebt sich Tatjana, die jüngere und verträumtere der beiden Schwestern. Sie erklärt ihm in einem Brief ihre Liebe und wagt sich damit weit aus dem Fenster, da er sie danach ziemlich kalt und herzlos abblitzen lässt.

 

Der zweite Akt der Oper beginnt mit einem Ball zu Ehren von Tatjanas Namenstag (im alten Russland anstelle des Geburtstags gefeiert) mit eben jenem Walzer, den Puschkin bildhaft beschrieben hat. Onegin sticht der Hafer, er ist gelangweilt von der Gesellschaft auf dem Lande und fängt aus lauter Überdruss an, offen mit Olga zu flirten und macht Lenski so eifersüchtig, dass dieser nach einem heftigen Streit zu guter Letzt Onegin zum Duell auffordert. Es kommt, wie es kommen muss: Lenski stirbt, erschossen von seinem ehemaligen Freund.

 

Der dritte und letzte Akt der Oper beginnt – Jahre später – wiederum mit einem Ball, diesmal herrschaftlich in St. Petersburg. Onegin, der die letzten Jahre haltlos in der Welt herumgereist ist, kommt auf Einladung seines (auch an Jahren) alten Freundes Fürst Gremin und muss auf dem Ball mit Entsetzen feststellen, dass dieser mittlerweile mit einer jugendlichen, attraktiven Frau verheiratet ist: Tatjana. Seine späte Erkenntnis, dass er sie liebt, hilft ihm nicht mehr; sie weist ihn ab, kühl und Herrin der Lage, so wie sie ihrerseits vor Jahren abgewiesen worden war.

 

Der Versroman »Evgenij Onegin« gilt als Meisterwerk der russischen Literatur. Puschkin schuf mit ihm nicht nur einen realistisch-poetischen Roman, sondern auch den Prototyp des in der russischen Literatur so oft wiederkehrenden »überflüssigen Menschen«.

 

Ironie der Geschichte: Puschkin sollte sieben Jahre nach Beendigung seines Romans das gleiche Schicksal wie Lenski ereilen: er erlag den Verletzungen eines Duells mit seinem Schwager. Grund war der Streit um die Ehre seiner Frau. | KS

 

Quellen:

Puschkin-Übersetzung: www.zeno.org / Zenodot Verlagsgesellschaft mbH